Autismus, Unser Alltag
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Der ist doch nicht behindert?!

… doch, das ist er! Als ich mit meinem Blog angefangen habe, habe ich schon einmal kurz das Thema angeschnitten. Da ich in letzter Zeit sehr oft mit diesem Thema konfrontiert worden bin, liegt es mir sehr am Herzen es nochmal genauer zu formulieren. Evan ist weder frech noch bin ich aufgrund der Tatsache, dass ich mit ihm alleine lebe, überfordert – manchmal vielleicht ein wenig – diese Tatsache hat aber nichts mit dem Grad seiner Behinderung zu tun. Auch wenn man Evan seine Behinderung nicht an sieht, ist es eine Tatsache, dass er in seinem Handeln und in seinem Alltag sehr eingeschränkt und ständig auf fremde Hilfe angewiesen ist. An alle Mitmenschen, Freunde, Familie und Wegbegleiter: Evan hat weder immerwährende Trotzanfälle noch ist er gemein gefährlich oder verfügt über ein hochgradiges Aggressionspotenzial. Durch die vielen Reize und Besonderheiten im Alltag kann man bei ihm eher von einer Reizüberflutung sprechen, die sein Verhalten in bestimmten Situationen auslösen. Hinzu kommt die fehlende (deutliche) Kommunikation, die einige Gegebenheiten noch verschlimmern können. Mich verletzt es sehr, wenn ich Menschen sehe, die ihn/uns herablassend anschauen. Ich kann verstehen, dass Evans Verhalten auf einige Mitmenschen verstörend oder sogar erschreckend wirken mag aber bitte vergesst nicht, dass Evan eine schwere Behinderung hat auch wenn man diese nicht auf den ersten Blick sehen kann. Von einem Kind, das im Rollstuhl sitzt, würde man nie erwarten, dass es laufen soll. Dieses auszusprechen wäre grauenvoll, völlig unangemessen, schlichtweg nicht akzeptabel. Warum also wird genau das immer und immer wieder von Evan verlangt bzw. erwartet? Auch nachdem ich sehr detailliert, sogar kindgerecht, fast ausgemalt wie eine Wegstrecke von A nach B, beschrieben habe, um welche Art von Behinderung es sich handelt. Manchmal sogar guten Freunden. Diese Tatsache bricht mir jedes Mal ein wenig mehr mein Herz und das Urvertrauen an die Menschlichkeit. Hin und wieder ertappe ich mich dabei mir vorzustellen, wie schön es doch wäre ein sehr deutliches, eindeutiges, Hilfsmittel neben den GUK Gebärden und unserem Hilfsbuggy zu haben, wie eine Art „Aushängeschild“ oder eine „förmliche Entschuldigung“. Wenn ich mich ganz in diesen Gedanken verliere, stelle ich mir sogar vor, dass es eine körperliche Erkennung gibt. Das Mitleid in den Augen der Menschen ist mir mittlerweile lieber als dieser ganz bestimme herablassende Blick. In diesen Momenten bin ich sehr dankbar, dass Evan diese Blicke und das Verhalten nicht deuten kann. Wenn einer dieser Blicke auf den Weg geschickt wird, kommt das undurchdringliche Mutterschild zum Einsatz, fast schon wie ein ritterliches Schutzschild, an dem alle negativen Schwingungen abgeprallt werden – fast so wie in einem Computerspiel nur das ich die Gegner (leider) nicht umhauen kann/darf.

Für mich ist und bleibt Evan unbeschreiblich, unbegreiflich wundervoll und einzigartig. Ich lege allen Mitmenschen ans Herz, diesen wundervollen Jungen eine Chance zu geben. Vielleicht einfach mal ein oder auch zwei Augen zuzudrücken und Euch auf eine ganz besondere Entdeckungsreise zu begeben. In eine Welt, in der man auf Bratpfannen oder Klobürsten „Old McDonald had a Farm“ spielen kann und es sich einfach einzigartig wundervoll anhört. Eine Welt, in der ein kleiner Junge einem sein liebstes Gummibärchen (Kuscheltier) gibt und man stundenlang zu „I am a Gummy Bear“ in genauester Imitation tanzend um den Tisch läuft. Eine Welt, in der Tischsprüche und Lieder einmal von einer ganz anderen Seite beleuchtet und melodisch sowie gestikulierend untermauert werden. Eine Welt, in der man so liebevoll an die Hand genommen und getragen wird. Alles was man dazu braucht ist ein bisschen – ich gebe zu, manchmal auch ein bisschen mehr – Geduld, Einfühlungsvermögen und eine handvoll – oder etwas mehr – Phantasie.

Auch wenn Evan in seinem Leben schon einige negative Erfahrungen, die es irgendwie durch mein „Mutterschild“ geschafft haben müssen (ich frage mich immer noch wie?!), erleben musste, hat dieser wundervolle Junge die Gabe, liebevoll auf Menschen zuzugehen, sie einfach an die Hand zu nehmen und schlichtweg an das Gute in jedem Menschen zu glauben. Ganz ohne Vorbehalte. Egal welcher Abstammung, welche Behinderung oder welcher sozialen Schicht sie angehören. Ist das nicht großartig?! In solchen Momente denke ich immer, dass dieser kleine Junge mir und vielen anderen so viel voraus hat.

Möge das Jahr 2016 reich an wundervollen, einzigartigen und verständnisvollen Begegnungen sein.

Auf das Jahr 2016.

“If you can’t fly then run, if you can’t run then walk, if you can’t walk then crawl, but whatever you do you have to keep moving forward.” (Marthin Luther King Jr.)

 

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Mein Sohn ist 5 Jahre alt und ist mit einem schweren Herzfehler, HLHS, auf die Welt gekommen. Mit 3 Jahren haben wir die Diagnose frühkindlicher Autismus erhalten. Auf diesen Seiten möchte ich etwas aus unserem Leben, seinen Therapien und unserem Alltag erzählen, der nicht immer leicht aber dafür auch nie langweilig ist. Mein Sohn und ich lieben das Leben, denn das Leben ist schön!

26 Kommentare

  1. Vielen lieben Dank für diesen Beitrag! !!
    Es spiegelt so deutlich unser Leben wieder 😢
    Von Herzen alles Liebe und Gute euch 😘

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    • Liebe Sina! Sehr gerne. Ich wünsche Euch alles Liebe und Gute für 2016 und viele emphatische Begegnungen & Wegbegleiter. Liebe Grüße, Marcella

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      • SIna sagt

        Vielen lieben Dank, das wünsche ich euch auch!
        Ich kann immer wieder nur DANKE sagen!
        Eine Freundin schickte mir einen Link zu dem Blog und endlich fühle ich mich nicht mehr alleine, ich habe nicht mehr das gefühl, das ich spinne und meinem Sohn etwas einzureden!
        Ich lese ihn/uns/ mich wieder und bin so froh, das wir nicht alleine sind!
        Liebe Grüße Sina mit Mikosch

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      • Liebe Sina, ich habe lange überlegt, ob ich einen Blog starten soll oder nicht. Am Anfang war ich doch sehr unsicher, da man einiges von sich und seinem Leben preisgibt. Mich freut es sehr zu lesen, dass wir Dir ein wenig helfen können und Du weißt, dass Du nicht alleine bist. Deine lieben Worte bestätigen mich nur darin, dass ich das Richtige getan habe. Vielen Dank dafür! Du spinnst überhaupt nicht und lass Dir das bitte nie einreden. Ich spreche aus Erfahrung ;o) Ganz liebe Grüße an Dich und Mikosch, Marcella

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  2. Simone Jacob sagt

    Danke,
    für diese wundevollen Worte, die ich nur alzugut nachvollziehen kann. Denn auch mich begleitet, seit 8 Jahren, so ein herzensguter Mensch.
    Leider wird das erklären müssen, nicht weniger und die „Schuld“ wird meist auf das Elternhaus geschoben.
    Weil die Welt, so nah sie einem doch ist, nicht mit dem Herzen sieht, sondern zielstrebig und egoistisch, blind und zerstörend ist. Und sie immer einen rationalen, sichtbaren Grund braucht.
    Wir wünschen euch, von ganzem Herzen, viel Kraft, Gesundheit, starke Nerven und Menschen um euch herum die Verstehen und euch stützen wenn es mal schwieriger wird.
    MfG Jonas und Simone Jacob

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    • Lieber Jonas, liebe Simone, vielen Dank für Eure offenen sowie ehrlichen Worte und die lieben Wünsche. Ich bin sehr gespannt welche Begegnungen auf uns in 2016 warten. Auf jeden Fall werden wir uns nicht unterkriegen lassen ;o) Ich wünsche Euch ein gesegnetes und wundervolles Jahr 2016. Liebe Grüße, Marcella

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  3. christian311983 sagt

    Der Artikel gefällt mir. Das Gefühl mit „Sieht doch garnicht behindert aus“ kenne ich mit meiner Asperger-Diagnose.

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  4. Frau De sagt

    Hallo Ihr Lieben.
    Ich verstehe euren Unmut gegenüber vielen Leuten auf diesem Planeten. Es ist aber leider so, dass der Mensch aus erlebten lernt und seine Erfahrungen sammelt. Auf sein Erfahrungsrepertoire hat jeder einzelne Zugriff. Bildung allein durch Schule reicht nicht aus. Jeder erfährt im Laufe seines Lebens seinen besonderen Bildungs- und Erfahrungsschatz. Wir sind nun mal nicht alle gleich. Vielleicht hilft es ein wenig, wenn euch jemand begegnet der eure Situation nicht nachvollziehen kann. Wir sind alle Menschen und sitzt alle im selben Boot. Es gibt leider viel zu viele Meinungen, Richtungen bzw. Moralvorstellungen, wie soll der Einzelne wissen, was falsch und richtig ist? Wer orientiert sich heute noch nach seinem Herzen? Jeder hat doch heutzutage seine eigene Moral. Ist es da nicht verwunderlich das der Mensch verkümmert und keine Liebe mehr in sich trägt. In einer Welt in der nur noch Hass, Neid und Abgunst herrscht? In der sich die Meisten nur um sich selbst kümmern und um ihre Vorteile kämpfen? Feut euch darüber ein anderes Leben führen zu dürfen und mit offenen Augen und Ohren gesegnet zu sein und helft denen die bereit sind zu verstehen. Auch ich habe durch euch gelernt. Alles liebe für euch im neuen Jahr 2016.

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  5. Cindy sagt

    Wundervoll geschrieben.
    Ich sage mal einfach,du bist eine „Leidensgenossin“
    Erkenne da mein Leben mit meinem Kind sehr deutlich drin wieder. Auch ihm sieht man es nicht an.
    Vielen Dank für die schönen Worte.

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  6. Hallo und ganz lieben Dank für diese tollen Worte! !!
    Sie sprechen genau das an was ich hier daheim erlebe.
    Es tut gut zu lesen das es auch anderen so geht wie einem selber.
    Auch ich“wünschte“ mir manchmal das man es meinen Töchtern ansehen könnte dann könnte ich mir manches ersparen zu hören oder zu erklären.

    Ich wünsche euch alle Kraft die man braucht.
    Und nochmal lieben dank

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  7. Hallo Marcella,
    Ich finde deinen Beitrag super! Vor allem der Vergleich mit dem Rollstuhl stimmt leider: Von keinem Kind im Rollstuhl würde man erwarten, dass es gehen soll. Aber unsere Kinder sollen sich ihrer Umwelt anpassen… dabei sind sie genauso behindert- eben auf anderer Ebene.
    Leider wird mir immer bewusster, wie schwer es unsere Kinder doch haben. Inklusion bedeutet doch für die meisten Menschen nur, dass Rollstuhlrampen an öffentliche Gebäude gebaut werden… Thema abgeschlossen. Für unsere Kinder wird es noch Jahrzehnte dauern. Wir müssen uns mehr denn je für sie einsetzen und eben genau unsere Blogs öffnen und sensibilisieren die Menschen für geistige Behinderungen, die man eben NICHT gleich sieht.
    Vielen Dank für Deinen Beitrag!!!

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    • Liebe Kiki! Danke für Deine lieben Worte. Das Thema Inklusion ist immer noch sehr schwierig für mich, da es oft in der Praxis nicht richtig aus/gelebt wird. Aber ich bin positiv und hoffe einfach mal auf das Beste ;o) Dir und Deiner Familie wünsche ich alles Gute. Liebe Grüße, Marcella

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  8. Pingback: Die Öffentlichkeit für Autismus sensibilisieren! | kiki blacks blog

  9. Du sprichst mir sehr aus dem Herzen und ich kann Dir nur Mut machen und mich für Evan freuen, dass er so eine engagierte und starke Mutter an seiner Seite hat!
    Ich habe einen Bruder mit Autismus und geistiger Behinderung. Diese „Wutausbrüche“ hatte er in seiner Kindheit sehr oft und jetzt weiß ich auch, dass es an Überforderung lag. Diese ist subjektiv und man kann nur versuchen, mit den Augen/dem Herzen des Kindes die Ursache zu finden.
    Ich wünsche euch alles, alles Gute!!!
    Und keine Ahnung, ob der Satz gut oder schlecht ist, aber ich sage immer: Solch einen Menschen liebt man doppelt.
    *Franziska*

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    • Liebe Franziska! Der Satz ist nicht schlecht und ich verstehe genau was Du meinst. Vielen Dank für Deine lieben Wünsche, die ich nur zurück geben kann. Alles Liebe aus Bremen, Marcella

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  10. Edith sagt

    Liebe Marcella,
    von Anfang an lese ich Ihren berührenden und im wahrsten Sinne des Wortes, bewusstseinserweiternden Blog. Sie nehmen mich mit auf eine Reise der besonderen Art, in der ich eine Welt kennen lernen darf, für die ich erst meine Augen und mein Herz öffnen muss und die immer wieder, neue Ein-und Ausblicke schenkt.
    Das heutige Thema spricht mich besonders an. Vor kurzem las ich in der Süddeutschen Zeitung einen Artikel über Wahrnehmung. Es gibt inzwischen viele Neurowissenschaftler die sich ausführlich damit beschäftigen: was nehmen wir wahr und was wird durch unsere eigenen Erfahrungen geprägt ? Es heisst dass mehr als 90 Prozent, dessen was wir sehen und erleben und für Realität halten, ausschließlich unseren Denkstrukturen, Erfahrungen und Erwartungen entspringt und nur wenig mit der „wirklichen Realität“ zu tun hat. Wir erschaffen und also alle unsere eigenen, kleinen Welten. Evan, so wie sie ihn beschreiben, voller Empathie und Liebe, ist so ein grandioser „Weltenerschaffer“, „Forschungsreisender “ und vor allem „Erwartungen auf den Kopf Steller“. Er bringt seine Mitmenschen dazu, neue Wege zu beschreiten, die Welt mit einem anderen Blick zu betrachten, neugierig zu sein, anstatt „alles schon zu kennen“. Und er wird dabei von seiner wunderbaren, mutigen und kreativen Mutter begleitet.
    Ich danke Ihnen von Herzen dafür, dass Sie so viel mit Ihren Lesern teilen. Für die Inspirationen und Ihren wunderbaren Humor.
    Mit herzlichen Grüßen Edith

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  11. Ich kann bei deinem Beitrag nur mitfühlen. Natürlich sieht man mir meine Behinderung durch den Rollstuhl an. Besonders schlaue Leute haben meiner Mutter aber unterstellt, dass sie mich nur in den Rollstuhl setzt, um die sogenannten Sonderrechte zunutzen.
    Wer dir so etwas unterstellt, sollte sich erst einmal über Autismus informieren. Solche Leute, die solche haltlosen Anschuldigungen machen, sind einfach zu bedauern. Lass dich von ihnen bitte nicht unterkriegen – Die haben ganz andere Probleme, denn sie sind in ihrem Leben unzufrieden und hauen deswegen überall unüberlegte Sachen heraus.

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    • Liebe Saskia-Katharina! Vielen Dank für Deine lieben und offenen Worte! Wir lassen uns nicht unterkriegen – nie ;o) Herzliche Grüße, Marcella

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  12. Oh, ja! Wie gut ich das kenne!
    Von meinem Kind erwarten auch immer alle, dass er sich einfügt, sich „normal“ benimmt. Dabei kostet ihn das „normal“ sein und anpassen so enorm viel Kraft, dass er manchmal eben nicht mehr kann – und dann muss „ES“ raus. Und dann wird vorwurfsvoll auf die Eltern geblickt.
    Aber es gibt Gott sei Dank immer mehr Personen in unserem Umfeld, die Verständnis aufbringen (was zugegebenerweise nicht immer leicht ist) und mit uns an einem Strang ziehen.
    Möge es euch auch gelingen!
    Liebe Grüße von Muttis Nähkästchen
    P.S.: Ich schreibe in meinem Blog auch als Betroffene über das Thema Autismus: http://muttis-blog.net/tag/autismus/

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    • Hallo! Vielen Dank für Deine lieben Worte und Wünsche. Oh, super. Dann schaue ich auf jeden Fall mal bei Dir vorbei. Liebe Grüße, Marcella

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  13. Natascha sagt

    Hallo Marcella und Evan,
    ich habe schon einiges von Euch gelesen und es hat mich sehr berührt. Ich bin selbst Mutter eines autistischen Kindes und er könnte fast Evans Zwilling sein. Marcella, du übersetzt genau meine Gedanken in schöne, auf den Punkt gebrachte Sprache, so wie ich das leider nicht könnte. Aber ich habe Dich ja nun gefunden.
    Ich freue mich, zukünftig von Euch zu lesen.
    Viele Grüße,
    Natascha

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    • Liebe Natascha, vielen Dank für Deinen Kommentar und Deine offenen Worte. Dann müssten sich die Beiden eigentlich mal kennenlernen ;o) Herzliche Grüße, Marcella

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