Allgemein, Autismus, Unser Alltag
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Ein Dreieck und kein Kreis.

Ich bin müde. Kaputt. Zerschlagen. Ich komme mir vor, als ob ich versuche ein überdimensionales Dreieck durch einen viel zu kleinen Kreis zu befördern. Oder ich versuche diesen Kreis zurecht zuschneiden. Mit einer stumpfen Schere. Leider funktioniert weder das Eine noch das Andere. Die Schere ist kaputt und das Dreieck ist einfach zu groß. Wie viel Anpassung ist gut und richtig? Diese Frage beschäftigt mich in letzter Zeit sehr. Oft fühle ich mich zerrissen. Ich versuche Evan und der Gesellschaft gerecht zu werden. Evan lebt in seiner eigenen kleinen ganz wunderbaren Welt. Eine Welt, in der alle Gitarren oder Gegenstände, die einer Gitarre ähneln, ihm gehören – egal ob sie im Supermarkt getarnt als Bratpfannen oder Haarbürsten hängen oder sich ganz ohne Tarnung in einem Schaufenster befinden. Eine Welt voller Kikaninchen und Gummibären. Eine Welt, in der es nur Laugengebäck und Nudeln gibt. Eine Welt, in der Musik eine so große Rolle spielt. Evans Welt. Es kostet Kraft Evans Welt aufrecht zu erhalten. Viel Kraft. Physisch und psychisch. Eine Welt, die oft nicht in der Realität bestand hält. Nicht halten kann. In einer nicht Autisten gerechten Welt/Gesellschaft zu leben, ist eine ständige Herausforderung. Für mich und für Evan. Ich versuche diese beiden Welten überein zu bekommen. Meine Welt? Die ist mittendrin. Mal mehr auf der einen Seite und dann wieder auf der anderen Seite. Jeder Autist/in oder Familienangehörige wird es verschieden empfinden. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass jeder Autist in seiner eigenen Welt lebt. Wir leben alle in einer Welt und in einer Gesellschaft. Dieser Artikel beruht lediglich auf meinen Empfindungen und Erfahrungen mit Evan und ich empfinde unser Leben oft, als wenn wir in 2 Parallelwelten zu Hause sind.

Wenn ich einen Raum betrete, einen neuen Waldweg ausprobiere oder nur im Supermarkt unseren Einkauf erledigen möchte, scanne ich unser Umfeld und Umgebung systematisch ab. Der Mama-Scanner-Blick. Gefahren werden gesichtet und umgangen. Oft sind es Kleinigkeiten, die Evan aus dem Konzept bringen. Seine Welt ins Wanken bringt. Unseren Ausflug nach 5 Minuten abrupt beenden. Umgebungen werden wie Wundertüten. Nie zu wissen was man erhalten wird. Das kann eine geöffnete Autotür oder eine angepasste Veränderung in meinem Verhalten sein. Vielen Menschen fällt diese Veränderung nicht auf. Sie mögen lächerlich, gar absurd, wirken. Evan aber sieht und bemerkt sie sofort und reagiert dementsprechend. Ich habe schon einige Leute gebeten, ob sie kurz ihre Autotür schließen können, damit wir vorbei gehen können. Was soll ich machen? Kommt gar nicht in Frage! Bis hin zu Ja, gerne. Kein Problem haben wir schon zu hören bekommen. Ich kann beide Reaktionen nachempfinden. Ich kann nicht erwarten, dass die Gesellschaft ständig und überall Rücksicht auf uns nimmt. Jeder trägt sein eigenes Päckchen mit sich herum und da kann „nur kurz die Autotür schließen“ oder „den Lichtschalter ein und aus schalten“ an einem Tag schon zu viel sein. Hundebesitzer zu fragen, ob sie uns bis zu unserem Auto begleiten, da ich Evan ansonsten nicht mehr überzeugen kann, den Rückweg anzutreten oder Campingplatzbesuchen zu erklären warum Evan deren Bratpfanne entführt hat, um auf dieser Old Mc Donald hat a Farm spielt, sind noch die harmlosesten Anfrage oder Gegebenheiten.

Ich wollte meinem Kind immer auf Augenhöhe begegnen. Liebevoll erklären als mit Kraft dagegen zu lenken. Ich möchte Evans wundervolles Wesen nicht verändern. Kein Kreis aus dem Dreieck formen. Ein Dreieck soll ein Dreieck bleiben. Aber wie passt das Dreieck in einen Kreis? Dieses Beispiel mag befremdlich wirken aber es spiegelt meine Empfindungen und Eindrücke wieder. Das Leben soll bunt sein. Natürlich ist es schön, wenn die Welt nicht nur aus Kreisen besteht sondern aus Dreiecken, Quadraten oder Vierecken. Eine bunte Vielfalt. Aber wie überlebt man in einer Welt, die hauptsächlich für Kreise konzipiert ist? Ich habe mich vor einigen Jahren bewusst gegen eine ABA Therapie, entschieden und diese Entscheidung auch bis heute nie bereut. ABA macht aus Dreiecken Kreise. Aber zu welchem Preis? Für mich ist ABA die reine Dressur eines Kindes, die gegen seine Würde verstößt.

Ich wünsche mir, dass Evans wundervolle Seele in Ruhe und voller Vertrauen und Zuversicht wachsen kann. Ich möchte nicht, dass Evan mit dem Gefühl erwachsen wird, alles falsch zu machen oder nicht richtig zu sein. Ihn ständig einzuschränken oder zu belehren. Ihn zu formen, damit er besser in die Gesellschaft passt. Evan und ich gegen den Rest der Welt. Gegen die Gesellschaft. Leider funktioniert das so nicht. Nicht ganz ohne die Gesellschaft. Wir möchten Teil dieser Gesellschaft sein. Zusammen an Aktivitäten teilnehmen. Vergnügungsparks, Museen oder Zoos besuchen. Aber dafür muss Evan sich an gewisse Strukturen und Umstände halten. Evan ist kein Autist, der am Liebsten in seinem Zimmer sitzt und an die Decke starrt – dieses Bild bekomme ich noch sehr häufig zu hören. Nein, Evan ist ein kleiner Michel aus Lönneberga, der Abenteuer erleben will. Der die Welt mit all seinen wunderbaren Farben entdecken möchte. Mit allen Sinnen in sie eintauchen möchte. Mama, was erleben wir heute?  vermag ich in Evans großen Augen zu lesen. Dieser kleine wundervolle Junge, möchte die Welt kennen lernen und es ist meine Aufgabe ihm diese Welt näher zu bringen. Dafür setzte ich mich ein. Jeden Tag aufs Neue. Viele Menschen aus meinem Bekanntenkreis fragen mich immer wieder, warum ich nicht einfach zu Hause bleibe und mir diesen Kampf erspare. Gute Frage. Wenn Evan in seinem Kinderzimmer genauso glücklich wäre, wie auf den sieben Weltmeeren, die an dieser Stelle für unsere Aktivitäten stehen, dann würde ich den ganzen Tag mit ihm in der Wohnung bleiben und mir meine Freiräume alleine nehmen. Aber Evan ist ein Abenteurer. Die Welt ist sein zu Hause. On the road – das ist Evans Devise. Während wir unsere alltäglichen Abenteuer erleben, stoßen wir immer wieder an unsere Grenzen. An gesellschaftliche Normen und Strukturen. Oft komme ich dann ins Spiel, die mutige Supermama (MSM), die alle Hürden für Evan nimmt und sie in Windeseile beseitigt. Geöffnete Autotüren werden liebevoll in kleine Abenteuer umgewandelt. Haar- und Klobürsten werden gekonnt umgangen. Stark, unermüdlich und voller Tatendrang – und dabei natürlich immer top gestylt. In der Realität stehen mir die Haare zu Berge, meine Augenringe werden immer dunkler und ich versuche verzweifelnd die Alltagsprobleme zu umgehen. Aus Supermama wird Onkel Fester aus der Addams Family.

Wie viel Anpassung ist richtig? Ich vermag diese Frage nicht zu beantworten. Ich weiß nur, dass Evan, so skurril und seltsam seine Welt auch manchen erscheinen mag, genau in dieser Welt glücklich ist. Warum also sollte ich ihn dort herausholen? Ich liebe Evan unendlich, ich kämpfe für das, was er braucht und ich trete für ihn ein. Jeden Tag aufs Neue.

Mein lieber Evan, ich bin so froh, dass es Dich gibt und Du so bist wie Du bist. Du bist wundervoll einzigartig. Etwas ganz besonders. Unbeschreiblich. Unglaublich fantastisch. Genauso wie Du bist, bist Du richtig. Ein Dreieck und kein Kreis.

 

 

 

 

 

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Mein Sohn ist 5 Jahre alt und ist mit einem schweren Herzfehler, HLHS, auf die Welt gekommen. Mit 3 Jahren haben wir die Diagnose frühkindlicher Autismus erhalten. Auf diesen Seiten möchte ich etwas aus unserem Leben, seinen Therapien und unserem Alltag erzählen, der nicht immer leicht aber dafür auch nie langweilig ist. Mein Sohn und ich lieben das Leben, denn das Leben ist schön!

13 Kommentare

  1. kinder unlimited sagt

    Und Evan wir so stolz sein, dass es Dich gibt. Eine solche Mutter wünscht sich jedes Kind….Du gehst immer auf ihn ein, nimmst ihn, wie er ist, förderst ihn, zeigst ihm die Welt…….irgendwann kann er es Dir auch zeigen!

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  2. DU machst alles genau richtig! Anpassung mit alle rGewalt funktioniert nur im ersten Moment und dann… dann kommt der große Zusammenbruch. Marcella, ich weiß, wie Du Dich fühlst! Unsere Jungs sind so besonders und so einzigartig! Warum also aus einem Dreieck ein Kreis machen, wenn die Dreiecke doch so wunderbar sind?

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  3. Jessika Kamann sagt

    Liebe Marcella,
    als ich eben Deine so gefühlvollen Zeilen gelesen habe, musste ich erstmal weinen,da diese mich so sehr berührt haben. Du bist eine bewundernswerte Mama und die Beste, die Evan sich je hätte wünschen können. Gib niemals auf!

    Es tut mir sehr leid,das Du immer wieder an die Enden Deiner Kräfte kommst, da die Gesellschaft und Evan einfach nicht übereinstimmen. Ich wünsche Dir von ganzem Herzen, das wir alle, die ganze Gesellschafft offener, mitfühlender und vorallem hilfsbereiter und mitdenkender Dir und besonders Evan gegenüber werden.
    Lieber Drücker und viel Kraft,
    Jessika

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    • Liebe Jessika! Vielen Dank für Deine lieben und aufbauenden Worte! Zum Glück kann die Supermama alias Onkel Fester ihre Kräfte immer wieder aufladen ;o) Liebe Grüße, Marcella

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  4. Sarah sagt

    Es ist ja so schon schwierig genug in unserer Welt , wo Höflichkeit u Rücksichtnahme als Schwäche ausgelegt werden. Und kindergerecht u kinderfreundlich ist unsere Gesellschaft nicht. Ich kann mir die schmerzenden vorwurfsvollen Blicke gut vorstellen ….
    Ich wünsch Dir einen tollen Frühling mit vielen Abenteuern !
    Sarah….Mama v 7 Monate alten Sohn

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    • Liebe Sarah! Vielen Dank für Deine Abenteuerwünsche! Wenn der Frühling erst mal da ist, ist Evan nicht mehr zu halten ;o) Ich wünsche Dir und Deiner Familie auch alles Gute! Liebe Grüße, die Abenteurer

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  5. Also ich muss als allererstes voraus schicken das ich keine Partnerin habe und auch kein Kind !

    Egal welchen Menschen draußen Begegnet bin seit ich seit 1986 Kreuz und Quer mit dem Truck durch Europa , Osteuropa und Asien gefahren bin, ich habe Grundsätzlich erstmal Respekt und Achtung habe !

    Dasselbe empfinde ich für Dich Marcella, wen ich immer wieder diese verschiedenen Geschichten aus Deinem und Evan’s Leben lese.

    Da ich persönlich die Menschen so nehme wie ich Ihnen begegne, ist für persönlich nie die Frage gewesen was diese Menschen in sich tragen und nicht nach aussen „normal“ mitteilen können.

    Ich selbst hatte einige Jahre auf meinen Wegen durch Rumänien Kontakt zu einer Familie eines Freundes mit einer behinderten Tochter ( und noch einem jüngeren „normalen Mädchen und einem Buben ), die Sich Sprachlich nicht richtig mitteilen konnte, auch Ihre Bewegungen waren sehr unkoordiniert.

    Was Sie genau hatte habe ich nie erfahren, aber schon nach dem 2ten Besuch in diesem Haus hatten Wir beide eine gemeinsame Ebene gefunden uns gegenseitig zu „Unterhalten“ und das verwunderte doch jeden in dem Rest der Familie sehr.
    Besonders meinen Freund , der ja mit der Mutter des Kindes seit einigen Jahren schon verheiratet war.
    Dazu muss ich aber Anfügen das Ich die Landessprache eh nicht beherrschte !

    Und jedes mal wen dort auf der Strecke unterwegs war, die Zeit es erlaubte, war dort zu Besuch.
    Und in den ersten 10 Minuten war es wie am Anfang beim ersten Besuch in der Familie , das Mädchen wirkt total gestreßt und chaotisch.

    Doch dann die Wandlung, Sie saß bei mir und Ihr Wesen veränderte sich total.
    Ich konnte mit Ihr Spiele spielen, ein mitgebrachtes Malbuch mit Buntstiften ausmalen ohne das auch nur eine Spitze am Stift kaputt ging usw., usw, ……………

    Und so war es über einen langen Zeitraum immer wo ich dort in diese Richtung auf meinen Touren in die Türkei unterwegs war. Egal ob rauf oder runter !

    Leider ist diese Verbindung durch ein Veränderung in meinem Berufsleben als Trucker dann 1997 abgebrochen.

    Aber wen ich mir so Deine heutigen Zeilen durchlese, liebe Marcella, dann weiß ich heute für mich, das, wen ich zu Besuch in das Haus kam, das Dreieck aus dem Kreis gehüpft ist.
    Sich diese Mädchen für einen Moment verstanden, frei, und unbekümmert gefühlt hat !
    Und wen ich dann wieder weiterfahren musste und mich von Ihr mit einer langen Umarmung verabschiedet habe, Sie im laufe meiner Abwesendheit wieder als Dreieck in den Kreis musste !

    Was aus Ihr geworden ist habe ich nie mehr in Erfahrung bringen können, und auf meinen weiteren Touren in eine andere Richtung bei einem anderen Arbeitgeber habe ich neue Schicksale kennen gelernt !

    Doch verstehen tu ich das erst seit ich hier durch Zufall bei Dir und anderen , ähnlich gelagerten „Familiengeschichten“ lese………….. weil Erfahrungen die man im Leben macht, sich immer erst Deuten und Erklären lassen wen man den „Lösungsweg“ schon kennt oder Ihn irgendwann anhand von Lebensbeispielen wie auf einem Silbertablett serviert bekommt……………

    Ich kann Dir nur soviel dazu schreiben als Rat, verrate Dich nie selbst und Deinen Sohn, auch wen es Dich noch soviel Kraft kostet, den diese Gesellschaft bringt nur das Runde ins Eckige, weil es so einfacher ist, aber das Runde so goß zu machen das auch das Eckige in jeglicher Zahl der Ecken da auch reinpasst, das wird wohl nur ganz selten zu finden sein…………

    Schöne wäre es wen Du und Evan für diese Tag Euch Zeit nehmen würdet , und dort mit dabei sein könntet……………….

    Hier wird für Kinder an diesem Tag richtig Abenteuer und Party gemacht

    https://www.facebook.com/events/520985324735502/

    Lieben Gruß Rainer

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  6. Beim Lesen kamen mir die Tränen. In deinen Worten steckt so viel Liebe und Weisheit, und vieles von dem sollten alle Eltern mal überdenken, denn wie viel Zeit verbringen wir damit, unsere Kinder zu verbiegen und ihnen zu erklären, was angeblich alles nicht geht…du kannst sehr stolz auf dich sein! Die Zweifel, das Hadern mit deinen Idealen und der Welt, der tägliche Kampf… Du gibst dein Bestes!

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  7. Stine sagt

    Liebe Marcella,

    ich bin vor Kurzem durch Zufall auf Deinen Blog gestoßen und hängen geblieben.
    Wenn ich Deine Blog-Posts lese bin ich voller Bewunderung, wie Ihr Euer Leben lebt und Abenteuer erlebt. Unsere Gesellschaft, die wir alle jeden Tag prägen, ist leider zu engstirnig, um die bunte Vielfalt der Formen und Farben zu sehen, zu verstehen und zu ertragen.
    Unsere 5jährige Tochter ist gesund und trotzdem erkenne ich viele Situationen, die Du beschreibst – sicher in abgeschwächter Form – wieder.
    Meine Motte ist quirlig, wild und wunderbar, voller Fantasie und Tatendrang. Vielen anderen Erwachsenen (auch Eltern) ist das aber oft zu viel. Sie soll Rücksicht nehmen, nicht toben, es darf nichts umfallen. Kurzum, sie soll sich benehmen, wie ein kleiner Erwachsener. Noch sieht sie die Welt mit ihren glücklichen Kinderaugen, aber leider wird immer wieder versucht, unsere Kinder viel zu früh zu angepassten Kreisen zu machen, damit man sich an den Spitzen der Dreiecke nicht stößt. Aber gerade diese Spitzen zeigen uns doch, wo wir die Welt ein Stückchen besser machen könnten.
    Ich wünsche Dir und Evan weiterhin viel Mut und Durchsetzungsvermögen auch in dieser unseren Gesellschaft euren Platz zu finden und allen Kindern lange die Möglichkeit sich ihre farbenfrohe Welt zu erhalten.

    Seid ganz herzlich gegrüßt von Stine

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    • Liebe Stine,

      vielen Dank für Deine lieben Worte! Das stimmt, oft ist die Gesellschaft nur auf Kreise gewappnet ;o) Wenn dann ein paar andere Formen hinzukommen, bekommt man oft den Eindruck einer leichten Überforderung. Ich freue mich sehr, dass es da draußen noch viele weitere Dreiecke oder Vierecke gibt! Alles Liebe für Euch, Marcella

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