Allgemein, Autismus, Herzfehler, Unser Alltag
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Nichts als die Wahrheit.

Nichts als die Wahrheit. Oder lieber nicht? Darf man heutzutage noch ehrlich sein?

Hallo. Wie geht es Dir?
Ich bin vollkommen erschöpft, mental und körperlich.
Oh, wie schön. Das freut mich. Danke, mir gehts auch gut. Bis dann.
Äh? Okay… Danke. Gerne. Bis dann.

Wie geht es Dir? Eine Frage. Im heutigen Gebrauch wohl eher eine Floskel, auf die kaum jemand eine ehrliche Antwort erwartet und hören möchte. Oft wird diese Frage wie ein kurzes „Hallo“ in den Raum geworfen. Das „Danke, sehr gut“ schon nicht mehr abgewartet und mit einem „Danke, mir auch“ beantwortet. Früher habe ich bei dieser Frage immer mein „Mir-geht-es-gut (sehr-gut)-Gesicht“ aufgesetzt. Egal wie scheiße ich aussah und wie abstrus dieses „Mir-geht-es-gut-Gesicht“ zu meinem restlichen Erscheinungsbild gepasst hat. „Wow, ihr geht es gut und sie sieht richtig scheiße aus. Wie schafft sie das bloß?“ (Ehrlich? Das frage ich mich wirklich sehr oft). Ich habe geantwortet, wie die meisten Menschen es von mir erwartet haben. Ich es vielleicht selber von mir erwartet habe. Liebende Mutter, strukturierte Organisatorin, gründliche Putzfrau, zuverlässige Therapeutin und dazu noch gut (hervorragend) aussehende Frau und nachts (natürlich) leidenschaftliche Liebhaberin, Femme fatale in Person. Höchstpersönlich. Zu Hause laufe ich grundsätzlich mit High Heels und kurzen Röcken herum. Dieses Outfit ist bei einem kleinem, sehr energiegeladenen Kind, besonders praktisch und das Wichtigste: Man sieht immer gut aus. Egal zu welcher Uhrzeit der Postbote am Wochenende klingelt – Ich bin vorbereitet und sehe hervorragend munter und zurechtgemacht aus. Leider sieht es in der Realität meistens -etwas- anders aus. Verstärkt, da Evan seit einigen Wochen beherrscht, die verschlossene Wohnungstür – trotz zusätzlichem Sicherheitsschloss – selbstständig zu öffnen und mein kleiner Michel die Postboten oder sonstigen Kurierfahrer freudestrahlend zu uns in die Wohnung einlädt (ob Mama gerade unter der Dusche steht oder ihre neue Quarkmaske ausprobiert ist ihm ziemlich egal und wird gekonnt ignoriert). Äh, wo soll ich unterschreiben?

Mittlerweile versuche ich auf die Frage „Wie geht es Dir?“ ehrlich zu antworten. Ich lade nach dieser Frage – diesen 4 Wörtern – nicht meinen kompletten Ballast (Misthaufen) ab -„Oh, wie gut, dass Sie fragen (dass endlich mal jemand fragt). Also, wo soll ich anfangen? Heute geht es mir nicht so gut. Angefangen hat es um 4 Uhr nachts, dann…“ – aber ich versuche ehrlich zu bleiben. Ich bin vollkommen erschöpft, mental und körperlich.  Möchtest Du das hören? Das weiß ich nicht. Aber es ist die Antwort auf Deine Frage. An manchen Tagen die einzig Ehrliche.

Eine weitere Frage, bei der ich früher nicht immer ganz ehrlich war, da eine andere Antwort von mir erwartet wurde, ist die Frage: „Jetzt ist er aber gesund, oder?“ Eine Frage, die überwiegend wie eine Feststellung benutzt wird. Mein Umfeld erwartet in den meisten Fällen eine positive Antwort. „Ja, jetzt ist er gesund. Ihm geht es blendend.“ Ende gut, alles gut. Und sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende. Danach nehmen wir uns in die Arme und sagen uns wir sehr wir uns lieben und schätzen. Nein, leider nicht ganz. Evan ist nicht gesund und wir nehmen uns weder in die Arme noch sagen wir uns wie sehr wir uns lieben und schätzen. Evan lebt mit einem halben Herzen. Operiert heißt nicht geheilt. Das Hypoplastische Linksherzsyndrom (HLHS) ist der schwerste angeborene Herzfehler, auch wenn es mittlerweile ein Leben und eine Zukunft mit fehlender Herzkammer gibt und Evan mir jeden Tag aufs Neue zeigt was für ein tolles und lebenswertes Leben das ist, ist Evan nicht gesund. Nach ein paar Jahren Übung, habe ich gelernt, offen mit dieser Frage und der ehrlichen Antwort umzugehen und diese auch deutlich zu kommunizieren. Möchtest Du das hören? Das weiß ich nicht. Aber es ist die Antwort auf Deine Frage. Die einzig Ehrliche.

Behinderung. Ein (weiteres) schwieriges Thema in Deutschland. Finde ich zumindest. Mein Kind ist behindert. Darf man/ich das so sagen? Behindert? Wenn ich Außenstehenden erzähle, dass mein Sohn behindert ist, zucken sie zusammen. Sollte ich lieber besonders oder anders begabt, besonders befähigt, sagen? Besonders behindert vielleicht? Oder es doch lieber einfach nett und niedlich umschreiben?

Mein Sohn ist krank.
Oh, was hat er denn? Die Grippe?
Äh, nicht ganz.
 Und Tschüss. 

Ich sage behindert. Für mich ist behindert kein Wort, bei dem man zusammen zucken muss. Evan ist verhindert/behindert etwas zu tun. Ganz einfach. Aber ist es wirklich so einfach? Ich benutze das Wort behindert wie andere Leute sich ganz selbstverständlich die Hand bei der Begrüßung geben. Wenn Kinder sich fragen warum der große Junge noch nicht spricht oder Evan nicht reagiert, versuche ich es ihnen ganz klar und kindgerecht zu erklären. Ich gehe sehr offen mit der Behinderung meines Sohnes um. Wenn uns Menschen an der Kasse komisch anschauen – länger als 60 Sekunden penetrant starren-, drehe ich mich um und sage freundlich: Mein Sohn ist behindert. Beim Bäcker, im Kaffee (sofern ich mit Evan mal eins besuche), bei der Post oder beim Arzt. Das mag befremdlich wirken aber es ist mein/unser Weg damit umzugehen. Für mich ist Evans Behinderung nicht nur eine Diagnose. Es ist unser Leben. Jeden Tag aufs Neue. Für einige Leute in meinem Bekanntenkreis ist diese offene Art schwierig und befremdlich. Das merke ich an den Reaktionen. Irgendwas macht das Wort behindert mit ihnen. Aber warum? Evan ist behindert. Und noch so viel mehr.

Für mich ist das Wort Behinderung oder behindert keine Beleidigung. Ganz im Gegenteil. Vielmehr beinhalten die Wörter, dass es eine nicht barrierefreie Umwelt ist, die behindert. Ganz nach dem Motto: Behindert ist man nicht, behindert wird man. Mir persönlich gefallen die beschönigenden Alternativ-Ausdrücke wie besondere Bedürfnisse oder anders begabt nicht so sehr, da sie nicht vollends zutreffen. Evans Bedürfnisse und Fähigkeiten sind nicht nur „besonders“ oder „anders begabt“ sondern genauso vielfältig wie die nicht behinderter Menschen. Das ist meine persönliche Meinung. Jeder sollte seinen persönlichen, eigenen, Weg inklusive Wortwahl, finden und benutzen, bei dem er/sie sich wohl fühlt. Egal wie es sich für das Umfeld anfühlt oder ob es andere Menschen für richtig empfinden.

Ich habe lange Zeit mehr Rücksicht auf fremde Menschen und ihr Empfinden genommen als auf meine Gefühle und meine Empfindungen zu hören. Bloß nichts Falsches sagen und keine Blöße zeigen – immer mit meinem „Mir-geht-es-gut (sehr-gut)-Gesicht“ im Schlepptau. Früher war es mir sehr wichtig gemocht und akzeptiert zu werden. Heute? Ist es mir größtenteils egal geworden. Mittlerweile suche ich mir die Menschen, an unserer Seite, sehr gründlich aus. Mir ist meine Zeit zu kostbar geworden, um diese mit Menschen zu verbringen, die uns nicht gut tun.

Seitdem ich versuche ehrlicher und offener durchs Leben zu gehen, haben sich wunderbare und ehrliche Gespräche entwickelt, deren Verlauf ich im Vorhinein nie erwartet hätte. Oftmals habe ich das Gefühl, dass mein Gegenüber dankbar ist, wenn ich sage, dass es mir heute nicht so gut geht. „Ehrlich? Mir geht es genauso. Es ist schön zu hören, dass ich nicht alleine bin. Danke!“ Ich habe im Laufe der Zeit gemerkt, dass ich nicht immer gut drauf sein muss und wie befreiend es ist, dies auch offen zum Ausdruck zu bringen. Ganz nach dem Motto: „Wow, ihr geht es schlecht und sie sieht auch dementsprechend scheiße aus. Wie ehrlich ist das denn?“ 

Darf man heutzutage noch ehrlich sein? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Aber ich mache es trotzdem. Jeden Tag ein bisschen mehr.

 

 

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Mein Sohn ist 5 Jahre alt und ist mit einem schweren Herzfehler, HLHS, auf die Welt gekommen. Mit 3 Jahren haben wir die Diagnose frühkindlicher Autismus erhalten. Auf diesen Seiten möchte ich etwas aus unserem Leben, seinen Therapien und unserem Alltag erzählen, der nicht immer leicht aber dafür auch nie langweilig ist. Mein Sohn und ich lieben das Leben, denn das Leben ist schön!

13 Kommentare

  1. Jessika kamann sagt

    Hallo liebe Marcella,

    Dies ist wieder ein toller offener und ehrlicher Text, der zum nachdenken anregt. Beim Lesen der Zeilen musste ich sofort daran denken, das wir den englisch sprachigen Ländern immer mehr ähneln …“How are you?“…“How are you.“ Warum diese Frage, wenn man keine detaillierte Antwort erhalten möchte. Oberflächlichkeit und Verurteilung sollten viele Menschen endlich ablegen.
    Wir hatten heute auch keinen einfachen GartenTag,Max isst einfach alles was er draußen findet…
    Liebe Grüsse

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    • Liebe Jessika, wir fangen jetzt einfach mal an. Wie geht es Dir? Nicht so einfach hört sich ja nicht so gut an. Evan versucht sich auch gerne im Garten an einigen Köstlichkeiten. Stimmt, im französischen ist es ähnlich (ca va? ca va.). Ich wünsche Dir viel Kraft! Alles Liebe, Marcella

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      • Jessika sagt

        Hallo liebe Marcella,
        Ja danke,heute war der Tag besser. Aber ich habe oft das Gefühl als Mama zu versagen, denn Erde, Vogelmist, Schnecken etc alles wird trotz einem immer erneuten „Nein“ von Max probiert. Und das in einer enormen Schnelligkeit.Das bringt einen schon irgendwann zur Verzweiflung. hoffe Dein Tag war heute auch nicht wieder zu schwer?
        Liebe Grüsse

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      • Hallo liebe Jessika! Das tut mir leid. Ich weiß wie anstrengend das ist, immer aufpassen zu müssen. Heute kann ich sagen, dass es mir gut geht. Ich bin etwas müde aber ansonsten geht es mir gut . Alles Liebe und hoffentlich eine erholsame Nacht! Marcella

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  2. 2ndplanetleft sagt

    Ja darf man und sollte man auch. Ehrlichkeit ist für mich das Wichtigste überhaupt. Die meisten können damit schlecht umgehen und wollen lieber belogen werden. Die Wahrheit kann halt auch sehr schmerzhaft sein und man ist gefordert seine Komfortzonen zu verlassen, um sich selbst und die eigenen Ansichten mal zu hinterfragen.

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    • Hallo! Die Komfortzone verlassen, das stimmt. Obwohl das manchmal nicht so einfach ist. Aber ich bemühe mich und bin auf einem guten Weg. Danke für Deinen Kommentar. Alles Liebe, Marcella

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      • 2ndplanetleft sagt

        Das mit der Komfortzone verlassen war eigentlich für die Nicht-Wahrheitsliebenden gedacht. Bei deinem Kommentar oben hatte ich das Gefühl du beziehst das auf dich ( vielleicht hätte ich mich auch missverständlich ausgedrückt). Ich finde gut, wenn jemand zeigt, wenn es ihm mal nicht so gut geht. Das erfordert sehr viel charakterliche Stärke und in dem Moment verlässt man ja die eigene Komfortzone.

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      • Hallo! Ja, ich habe Dich verstanden. Obwohl ich versuche zu den Wahrheitsliebenden zu gehören, kenne ich die Konfortzone nur zu gut ;o) Du hast Dich gar nicht missverständlich ausgedrückt. Das stimmt, offen und ehrlich zu seinen Gefühlen zu stehen, kostet wirklich viel Kraft und Stärke.

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  3. Jacqueline sagt

    Hallo Marcella,
    gerade las ich deinen Kommentar. Dein Geschriebenes berührte mich besonders, da ich mich genau mit diesem Thema gerade beschäftige. Neben meiner Familie, studiere ich derzeit. Es kommt immer wieder vor, dass mir vorgeworfen wird warum ich denn schon eine Woche nicht in der Uni war.
    Wenn ich darauf ehrlich antworte, also sage“Weil ich etliche Termine mit meinem Sohn habe , für die Schulbegleitung, Gespräche mit seinen Lehrerinnen in der Grundschule, Autismus-Therapien. Außerdem bin ich gerade ausgelaugt, da es gerade besonders kompliziert ist mit meinem Sohn“ , werde ich angesehen , als wolle man mit sagen, dass sie es nicht hören wollten.
    Ich ertappe mich ständig dabei, zu sagen, dass es mir gut geht , obwohl ich mich an manchen Tagen hundeelend und vor allem müde fühle.
    Ich muss auch damit aufhören mich zu rechtfertigen oder anderen eine Antwort zu geben, die sie hören wollen!
    Liebe Grüße und Danke für deine Worte
    Jacqueline

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    • Liebe Jacqueline,
      vielen Dank für Deine offenen Worte und Deinen Kommentar. Ich kann Dich so gut verstehen. Mir geht es immer noch sehr ähnlich. Ich rechtfertige mich oder entschuldige mich dafür, dass es mir an manchen Tagen nicht so gut geht.

      Heutzutage besteht so ein großer Leistungsdruck in allem gut sein zu müssen. Als Mutter, bei der Arbeit, privat. Oftmals bin ich allerdings selber meine größte Zweiflerin und Kritikerin. Damit ich jetzt Schluss – ab sofort (das bilde ich mir zumindest ein). Wenn ich selber kein Verständnis für mich habe, wie sollen es dann die anderen Menschen haben?

      Ich wünsche Dir alles Gute, viel Kraft und viele Inseln des Alltages! Alles Liebe, Marcella

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